Eltern und Medien – auf Augenhöhe
November 26, 2023Feiertagswünsche
Dezember 24, 2023Gedenkveranstaltung in der Stadt Marsberg
Am 9. November 2023 fand in der Stadt Marsberg eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 85. Jahrestags der Reichspogromnacht statt. Viele Bürger hatten sich um 18 Uhr in der Hauptstraße Nr. 29 versammelt, dem ehemaligen Haus der jüdischen Familie Weitzenkorn. Nach einer musikalischen Einlage und einem Vortrag, der die Ereignisse in Marsberg am 9.11.38 zum Inhalt hatte, ging die Gruppe die Hauptstraße weiter hoch zur Nr. 31, dem ehemaligen Haus der Familie Levy.
Die Sekundarschule Am Eresberg als eine Schule gegen Rassismus – eine Schule mit Courage hatte sich an der Veranstaltung mit einem Beitrag beteiligt:
Die Schülerinnen Marie Bartoldus, Gloria Iljasheva und Melissa Oligmüller hatten einen Text vorbereitet, der das Schicksal der Schwestern Margot, Lieselotte und Ingeborg Levy zum Thema hatte. Diese wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Die Schwestern Levy waren in etwas so alt wie vortragenden Schwestern, was diese besonders berührte. Neben den Schülerinnen war die Schulleitung mit Frau Bader und Frau Hoffmann sowie Frau Monika Bannenberg und Herr Rennert als Vertreter des Kollegiums und der Fachschaft Gesellschaftslehre anwesend. Letztere hatten mit den Schülerinnen das Thema ausführlich erarbeitet.
Zum Abschluss versammelte man sich gegenüber dem Gebäude Nr. 38 in der Weist, in der vormals die Synagoge untergebracht war. Vertreter der beiden christlichen Kirchen stimmten ein Lied an und riefen zum Gebet auf.
Vorschlag für einen Namen für die Sekundarschule Marsberg
Geschwister – Levy – Sekundarschule Margot Levy
*6.12.1921 in Niedermarsberg 28.4.1942 nach Zamość (Ghetto) deportiert (laut Yad Vashem ermordet)
Lieselotte Levy
*7.9.1923 in Niedermarsberg
nach Frankfurt verzogen
3.3.1943 nach Auschwitz deportiert, verschollen (laut Yad Vashem ermordet)
Inge Levy
* 12.10.1924 in Niedermarsberg 28.4.1942 nach Zamość (Ghetto) deportiert (laut Yad Vashem ermordet)
Wohnsitz: Hauptstr. 31 (damals: Adolf-Hitler-Straße 31)
Familiengeschichte
Familie Arthur Levy führte in der Hauptstr. 31 in Marsberg ein Textilgeschäft und betrieb einen ambulanten Handel mit Stoffen und Haushaltswäsche. Arthur Levy und seine Frau Herta hatten drei Töchter: Margot (geb. 1921), Lieselotte (geb. 1923) und Inge (geb.1924). Alte Marsberger erinnerten sich an Familie Levy: „Eine nette Familie und ausgesprochen intelligente Mädchen.“ Über die jüngste Tochter Inge wurde gesagt, dass sie Klassenerste in der katholischen Volksschule war. Ihre Klassenkameradinnen erzählten: „Als die Mädchen im 3. oder 4. Schuljahr ihre Plätze nach Leistung erhielten, erklärte die Klassenlehrerin Fräulein Neu: ‚Auf den 1. Platz kommt Maria H., auf den 2. Inge Levy. Ihr wisst alle, eigentlich gehört Inge auf den 1. Platz, aber das kann ich mir in der heutigen Zeit nicht leisten.’“2 Margot besuchte mehrere Jahre die Höhere Töchterschule und wollte sich zu einer Putzmacherin ausbilden lassen. Inge wollte Schneiderin werden.
Nach der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 und den fortwährenden Boykott- Aufrufen gegen jüdische Geschäftsleute gingen die Geschäfte Arthur Levys so stark zurück, dass er das stark belastete Haus verkaufen musste. Jedoch konnte die Familie weiter darin wohnen. Allerdings waren die geplanten Ausbildungen der Töchter nicht mehr möglich, da Juden zu einer ordnungsgemäßen Ausbildung nicht mehr zugelassen wurden. Im November 1938 wurde Inge vor Beendigung der Schulpflicht aus der Volksschule entlassen.
In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde die Wohnung der Levys durch SA-Truppen zerstört und der Vater im KZ Sachsenhausen inhaftiert. Unter der Bedingung, schnellst möglich mit seiner Familie auszuwandern, wurde er am 2. Dezember schließlich dort entlassen. Sämtliche Versuche diesbezüglich scheiterten jedoch.
Da die antisemitischen Pöbeleien und Angriffe gegenüber Marsberger jüdischen Mitbürgern jedoch zunahmen, brachte Familie Levy ihre Töchter als Haustöchter in bekannten jüdischen Familien in Berlin, Bremen, Frankfurt und Geseke unter.
Anfang 1942 waren die Mädchen Margot und Inge wieder in ihrem Elternhaus. Dort erreichte die Schwestern der Befehl, sich am 28.4.1942 für die Deportation bereitzuhalten. Von Marsberg aus wurden sie mit ca. 1000 anderen Juden aus dem Regierungsbezirk Arnsberg erst nach Dortmund verbracht, anschließend in einer dreitägigen Zugfahrt nach Zamość, wo die beiden Schwestern im Ghetto einquartiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden.
Die Bedingungen während des Transports und im Ghetto sind dokumentiert durch zahlreiche Briefe Margots und Inges an deren Eltern in Marsberg. Diese einzigen
1 Im Wesentlichen beziehe ich mich hier auf die Ausführungen in BANKE, GUDRUN: Auf den Spuren der Marsberg Juden, S.68-73.
2 BANKE, GUDRUN: Auf den Spuren der Marsberger Juden, S.69.
Zeugnisse über das Leben in dem polnischen Ghetto hatte Arthur Levy vor seiner eigenen Deportation nach Auschwitz einem Nachbarn überlassen. Die Schriftstücke wurden 2006 von einer Marsberger Bürgerin ins Stadtarchiv gebracht; sie hatte sie bei der Verwaltung des Nachlasses ihres Vaters auf dem Dachboden gefunden. Mittlerweile sind die die Briefe, Karten und Schriftstücke transkribiert und historisch ausgewertet worden (Aufsatz Gudrun Banke).
Margot und Inge Levy wurden wahrscheinlich Opfer einer „Aussiedlungsaktion“ Anfang August oder im September 1942. Wahrscheinlich wurden sie in das Vernichtungslager Belzec deportiert.
Lieselotte Levy, die Anfang 1943 noch in Berlin lebte, wurde am 3. März nach Auschwitz deportiert und gilt seitdem als verschollen.
Die Eltern Arthur und Herta Levy wurden am 27. Februar 1943 nach Auschwitz deportiert. Seitdem gilt Arthur Levy als verschollen. Seine Frau überlebte das KZ Auschwitz III (Monowitz) und kam Ende 1944 in das KZ Bergen-Belsen, wo sie im Frühjahr 1945 an Flecktyphus gestorben ist.
Warum ich die Geschwister Levy als Namensgeberinnen vorschlage:
Alle drei wurden in Marsberg geboren.
Sie waren begabte, intelligente junge Frauen, die durch das Nazi-Regime ihrer Lebenspläne (auch ihrer (Schul-)Ausbildung) und ihrer Zukunft beraubt wurden. Sie und ihre gesamte Familie wurden ausgelöscht.
In Margots und Inges Briefen aus Zamość, die erst im Jahre 2006 auf dem Dachboden einer benachbarten Marsberger Familie gefunden wurden, kommt die Charakterstärke der jungen Frauen zum Ausdruck: „Es ist beeindruckend mit welcher emotionalen Gefasstheit und klugen Umsicht die jungen Frauen agieren, wie gerade Margot Levy versucht, angesichts der Mühsal und der bedrückenden Situation Stärke zu demonstrieren. Inwiefern es nur ein Bild war, das sie bereitwillig zur Beruhigung der Eltern daheim entwarf, muss dahingestellt bleiben.“3
Ihr Schicksal und das der anderen Marsberger Juden darf nicht vergessen werden. Ein Gedenken an ihre Verfolgung und ihre Ermordung steht gewissermaßen exemplarisch für das Schicksal aller in der Shoah verfolgten Juden.
Ihre Schicksale sind (noch) nicht geklärt. Sie haben kein Grab, keinen Ort der Erinnerung. Laut dem Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem jedoch gilt die gesamte Familie als ermordet.
3 BANKE, GUDRUN: „Oder wisst ihr noch immer nicht, wo wir sind? Briefe aus Zamość“, S.187.
Sie waren Marsbergerinnen. Es waren Marsberger, die jüdische Mitbürger wegen ihres Glaubens diskriminierten, sie anpöbelten und angriffen. Wir, die Sekundarschule Marsberg, sind Mitglied in dem Schulnetzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Die Vergangenheit – repräsentiert in den Biographien der Schwestern Levy – ist gleichzeitig Auftrag für unsere Zukunft.
Die Biographien der drei Schwestern ließen sich leicht in den schulinternen Lehrplänen insbesondere der Fächer Geschichte, Religion und Praktische Philosophie systemisch verankern.
Die Benennung unserer Schule nach den Schwestern Levy steht in einem Sinnzusammenhang mit der Gedenkfahrt nach Auschwitz sowie dem Schüleraustausch mit Polen, der sich zukünftig stärker Gedenkstättenfahrten widmen will.
Die jüngste der Schwestern, Inge, ist in dem Alter unserer Schülerinnen und Schüler, was hohes Identifikationspotenzial bietet.
Es gibt außerschulische Lernorte in Marsberg, die die Geschichte der jüdíschen Gemeinde Marsberg konkret erfahrbar machen: Stolpersteine in der Kernstadt und in Ortsteilen, vier jüdische Friedhöfe, die Synagoge in Padberg.
Die Namensgebung würde angesichts des wieder aufflammenden Antisemitismus in Deutschland ein Zeichen setzen.
Quellen:
BANKE, GUDRUN: Auf den Spuren der Marsberger Juden. Ein Erinnerungsbuch, Marsberg 2007, S.68ff.
BANKE, GUDRUN: „Oder wisst Ihr noch immer nicht, wo wir sind? Briefe aus Zamość“, in: Ralf Piorr / Peter Witte (Hg.) Ohne Rückkehr. Die Deportation der Juden aus dem Regierungsbezirk Arnsberg nach Zamość im April 1942, Essen 2012, S.183-20
Fotonachweis:
Alle Fotos stammen aus dem Stadtarchiv Marsberg.